Bericht aus Chile: Nachts heiße ich Paloma Liebe Freundinnen und Freude, liebe Verwandte, liebe Wahlverwandte, liebe Leserinnen und Leser! Für diesen Bericht sieht die EKiR, meine Entsendeorganisation, den Schwerpunkt „Das Land, die Kultur, die Politik, die Religion... Unterschiede und Gemeinsamkeiten“ vor. Nun ist dieser Schwerpunkt ein weites Feld, weshalb ich mich auf einen ganz besonderen Aspekt der chilenischen Gesellschaft konzentrieren möchte: Straßenprostitution von Männern, die als Frauen verkleidet sind. Dieses Phänomen, welches mir ubiquitär in Lateinamerika zu sein scheint, ist in San Felipe sehr verbreitet. Wir Freiwilligen können ein Lied davon singen, wenn uns auf dem Nachhauseweg von Travesties hinterhergepfiffen wird; die Casa Walter Zielke, direkt am Transenstrich gelegen, hatte zwischenzeitlich einen minderjährigen Bewohner mit Connections in die Szene; und geht man abends feiern, ist es gut möglich, dass Travesties über die Toiletten wachen, wenn sie nicht in eine der hier so beliebten Shows involviert sind. Kurz: Travestie und Prostitution – zwei nicht zwangsläufig zu vermischende Bereiche – verschmelzen in unserer kleinen Stadt ineinander, weshalb es mir Grund genug erscheint, dieses Phänomen zum Thema meines zweiten Berichts zu machen. Meine Gesprächspartnerin war die Sexarbeiter_in Paloma, zu deutsch Taube, die sich dankenswerterweise sofort zu einem Interview bereit erklärt hat. Paloma wohnt in der doscincuenta, Leon Freude FiFAr e. V, Carlos Keller 39 Maxstr. 11 San Felipe 47127 Essen Dezember 2010 bis März 2011 • Standpunkt . Info ˜ Übersetzung Manche Phrasen sind nicht schön zu übersetzen oder gefallen mir im Spanischen besser. Da viele der Leser_innen wahrscheinlich besser spanisch sprechen als ich, lass ich es im Text und bemühe mich am Rand um eine adäquate Übersetzung 005634 -511 989 Kreditinstitut: Bank für Kirche und Diakonie, Duisburg leon.freude@web.de Kto. Nr.: 101 208 1010 www.chilekollektiv.wordpress.com BLZ: 350 601 90 1 Bericht aus Chile: Nachts heiße ich Paloma einem der Marginalviertel, welches das Nachbarschaftszentrum der Villa Industrial mit seiner Arbeit abzudecken versucht. Prostitution ist neben Drogenhandel und der Arbeit in der Weintraubenernte eines der Hauptarbeitsfelder in besagten Viertel. Eine der Tías, die das Zentrum mitbegründet hat, spricht in Anlehnung an die beiden zuerst genannten Arbeitsfelder von dem einfachen Weg – und versucht den Kindern und Jugendlichen, den harten aber ehrenwerten Weg des Schulbesuchs und der konventionellen Erwerbsarbeit schmackhaft zu machen. Die Casa Walter Zielke ist ein gutes Beispiel für diesen harten und ehrenwerten Weg – niemand hat hier das Recht zu gehorchen, jeder muss dort für sich selbst entscheiden, wie sein Weg aussehen wird: aufstehen, nicht aufstehen; lernen, nicht lernen; früh schlafen oder Playstation. Wir bemühen uns so gut es geht, die Jugendlichen auf dem vermeintlich richtigen Weg zu begleiten – doch die strukturellen Un- Vorraussetzungen , wie ein selektives Schulsystem oder ein wenig attraktiver Arbeitsmarkt machen es nicht gerade einfacher. Und so haben wir in diesem Jahr zumindest einmal mit erleben müssen, wie ein Projektbewohner sich für die Straße entschieden hat. Danach sah man ihn häufiger mit einschlägig bekannten Gestalten durch die Straße laufen – mittlerweile scheint er wie vom Erdboden verschluckt. Hoffen wir, dass ihm wie Paloma ein Ausstieg geglückt ist. Euch viel Spaß beim Lesen – danke für finanzielle und ideelle Förderung! Leon Leon Freude FiFAr e. V, Carlos Keller 39 Maxstr. 11 San Felipe 47127 Essen Dezember 2010 bis März 2011 • Ich werde mir im Folgenden Mühe geben, den Text so gut es geht zu gendern. Ich habe mich dabei ganz bewusst für das Gender Gap entschieden, weil es aus meiner Sicht den uns hier vorliegenden Grenzbereichen zwischen den Geschlechtern am besten gerecht wird 005634 -511 989 Kreditinstitut: Bank für Kirche und Diakonie, Duisburg leon.freude@web.de Kto. Nr.: 101 208 1010 www.chilekollektiv.wordpress.com BLZ: 350 601 90 2 Bericht aus Chile: Nachts heiße ich Paloma Paloma, am besten stellst du dich kurz vor. Name, Alter, Schulabschluss, damit die Leser_innen sich ein Bild machen können. Muss das mein richtiger Name... Nein, ganz wie du willst. Okay, also – tagsüber kleide ich mich nicht als Frau, denn ich bin kein Travestie-full. Ich arbeite in der Nacht. Nachts heiße ich Paloma, am Tag Sergio. Ich bin 24 Jahre alt und habe mein Studium Tecnico de Administración beendet. Ich habe auch eine Zeit lang sehr gut in meinem Job verdient, aber por cosas de la vida kam ich auf eine andere Schiene. Und tagsüber gehst du anderweitiger Beschäftigung nach, richtig? Ja, mittlerweile arbeite ich in einem Perser, wo ich ein Bekleidungsgeschäft unterhalte. Nur manchmal, wenn es im Haushalt an etwas fehlt, wenn eine Rechnung beglichen werden muss – manchmal ist es halt einfacher nachts auf der Straße zu arbeiten. Jetzt sind wir schon mitten drin – lass uns trotzdem nochmal zum Anfang zurück. Wie bist du in dieses Milieu gekommen? Das ist eine ganz persönliche Geschichte, eines Tages gab es zu Hause ziemlich Stress. Ende vom Lied war, dass man mich rausgeschmissen hat. Ich habe zwei Tage auf der Straße leben müssen und eine Freundin hat mir beim Einstieg geholfen. Also ich habe vorher schon als Transformista in einer Show in einem Club... … dem Ibiza in San Felipe... Leon Freude FiFAr e. V, Carlos Keller 39 Maxstr. 11 San Felipe 47127 Essen Dezember 2010 bis März 2011 . Travestie ist der- bzw. diejenige, der/die sich wie das jeweils andere Geschlecht verkleidet ˜ evtl. Verwaltungslehre ˜ wie das Leben so spielt . Perser sind eine Mischung aus ständigen Flohmärkten und Ramschmessen . Shows sind in Lateinamerika sehr beliebt: hier tanzen nicht nur Travesties, sondern auch Frauen. Die bekannteste Show Chiles ist wohl diese 005634 -511 989 Kreditinstitut: Bank für Kirche und Diakonie, Duisburg leon.freude@web.de Kto. Nr.: 101 208 1010 www.chilekollektiv.wordpress.com BLZ: 350 601 90 3 Bericht aus Chile: Nachts heiße ich Paloma genau da hab' ich gearbeitet. Mit dem Rausschmiss brauchte ich Geld, um mir eine Wohnung zu mieten und ich habe mich als Sexarbeiter_in verkauft. Von da an habe ich eineinhalb Jahre jeden Tag auf der Straße angeschafft. Okay – Sexarbeiter_in. Schon die Form wirft eine Frage auf. Magst du dich innerhalb der drei Koordinaten Sex, Gender und Desire positionieren? Also, ich bin schwul, immer schon – oder nein – seit ich 19 bin: mir gefielen weder Frauen noch Männer – aber Männer fand ich zumindest interessant. Zum Gender: die Geschichte von Paloma resultiert vor allem aus einem Geldproblem. Ich habe mich niemals als Frau gefühlt, das ist eine ganz schräge Sache, die mir da passiert ist. Die ganze Welt fragt mich, warum ziehst du dich wie eine Frau an, wenn du dich nicht so fühlst. Für mich ist die Frau eine Geldquelle. Gut, könntest du doch vermutlich auch als Mann sexuelle Dienstleistungen anbieten. Stimmt, wahrscheinlich schon. Irgendwie gefällt es mir schon: der Wechsel von Paloma zu Sergio. Aber mir ist klar wer ich bin – ich weiß nicht, vielleicht werde ich eines Tages Travestie full. Aber bis dahin bleibe ich travestie de closet. Woher kommst du? Ich bin von hier – aus der doscincuenta um genau zu sein. Ich habe dort ein Haus, in dem ich mit einem/einer Freund_in wohne, die zur Zeit die gleiche Phase durchläuft wie ich: Mann bleiben, Travestie full werden... ich glaube sie geht in Richtung Travestie. Leon Freude FiFAr e. V, Carlos Keller 39 Maxstr. 11 San Felipe 47127 Essen Dezember 2010 bis März 2011 • Paloma spricht meist von comercio, ich habe trotzdem Sexarbeit gewählt. Die nordamerikanische Frauenbewegung hat den Ausdruck mit dem Ziel eingeführt, durch den expliziten Gebrauch des Worts Arbeit eine rechtliche Gleichstellung zu erreichen . Die drei Kategorien Sex (biologisches Geschlecht), Gender (soziales Geschlecht), Desire (Begehren/Sexualität) sind mir das erste Mal bei der Linguistin Butler begegnet, die davon ausgeht, dass die drei Begriffe normativ aufeinander ausgerichtet sind und so eine Zwangsordnung etablieren. Darüber hinaus wird die Menschheit in zwei Gruppen unterteilt: Männer und Frauen – alles konstruiert 005634 -511 989 Kreditinstitut: Bank für Kirche und Diakonie, Duisburg leon.freude@web.de Kto. Nr.: 101 208 1010 www.chilekollektiv.wordpress.com BLZ: 350 601 90 4 Bericht aus Chile: Nachts heiße ich Paloma Ganz gleich, Travestie full zu sein ist auch schwierig. Entweder man muss in der Saisonarbeit schuften oder sich dem Comercio hingeben. Wie müssen wir uns so eine Nachtschicht vorstellen? Also, um sechs Uhr abends geht es los. Man fängt an, die Sachen rauszulegen, sich zu duschen, sich zu rasieren, sich zu schminken. Im Winter ist man dann ab acht an der Ecke – unter der Woche bleibst du bis eins oder zwei, am Wochenende bis zum Morgengrauen. Ganz egal wie kalt, wie nass? Ich meine, gerade San Felipe ist nicht für laue Nächte bekannt... Nein, gerade im letzten Jahr – ich hatte keine feste Anstellung und musste deshalb häufiger auf die Straße – stand ich häufig die ganze Nacht da. Es regnete, es war kalt und ich bin eine von den Harten, d.h. ich arbeite mit Mini-Rock, Stiefeln und ohne Handschuhe. Und wie seid ihr organisiert: wie Selbstständige oder mit einem/einer Chef_in? Nein – in einem Unternehmen zu arbeiten ist schon ein ganz anderes Niveau. In der Straße ist man sein_e eigene_r Chef_in. Zumindest in San Felipe. Und wie muss ich dann Lokale wie das Di Carlos oder das Cascada einordnen? Ah, nein – dass sind ganz normale Puffs, da arbeiten keine Travesties. Hier in San Felipe gibt es keine Clubs für Travesties oder Transgender. Dafür gibt es hier keinen Platz. Leon Freude FiFAr e. V, Carlos Keller 39 Maxstr. 11 San Felipe 47127 Essen Dezember 2010 bis März 2011 ˜ Handel, Gewerbe . Nicht nur Travesties arbeiten als Saisonarbeiter. Fast alle arbeitsfähigen Bewohner der Villa Industrial und der angrenzenden Viertel, ja auch viele andere San Felipeños schuften ohne gewerkschaftliche Interessenvertretung in der Uva, d.h. der Weintraubenernte . Transgendermenschen sind diejenigen, die von der ihnen zugewiesenen Geschlechterrolle, d.h. dem sozialen Geschlecht abweichen . Travestie ist eine „öffentlich zur Schau gestellte Verkleidungskunst“ 005634 -511 989 Kreditinstitut: Bank für Kirche und Diakonie, Duisburg leon.freude@web.de Kto. Nr.: 101 208 1010 www.chilekollektiv.wordpress.com BLZ: 350 601 90 5 Bericht aus Chile: Nachts heiße ich Paloma Dezember 2010 bis März 2011 Das heißt auch: keine Klos, kein Ort zum Aufwärmen, kein Schutzraum. Außerdem ist trinken in der Straße verboten – wie sieht das mit Alkohol aus? Stimmt es ist wirklich prekär. Aber dass Alk verboten ist, stört ˜ ein Getränkchen keinen – man trinkt sich ein tragito, aber danach noch einen gegen die Kälte. Und es bleibt nicht bei einem, sondern es . das Verniedlichungs- suffix -ito oder -ita werden zwei, drei – ja bis zu fünf Flaschen Rum. Gegen die ist in Chile beliebt Kälte. ...auch um sich zu betäuben, oder? Ja, auch dabei hilft Alkohol bekanntlich. Vor allem am Anfang hat es mich sehr viel Überwindung gekostet und der Alkohol gibt dir die Persönlichkeit, dich offensiver zu verhalten. Das ist was du zu tun hast – dich anbieten. Die, denen du dich anbietest – wer ist das? Also es gibt von allen. Single, Verheiratete, welche, die experimentieren wollen, andere, die hier etwas bekommen, was sie zu Hause nicht kriegen. In der Straße sieht man von allem etwas. Du könntest sagen, vielleicht sehen sie mich als Frau – aber das ist klar, ich bin als Frau verkleidet, arbeite aber als Mann. Okay, könntest du sie in das Raster, in das du dich selbst eingeordnet hast, einordnen? Es sind ausschließlich Männer – hetero-und homosexuell oder wie man neuerdings zu sagen pflegt: neugierige heterosexuelle Männer, die Neues ausprobieren wollen. Oder es sind schlicht und einfach Leute, die immer schwul waren und geheiratet haben und weil sie niemanden haben, suchen sie woanders, was sie zu Hause nicht kriegen. Leon Freude FiFAr e. V, Carlos Keller 39 Maxstr. 11 San Felipe 47127 Essen 005634 -511 989 Kreditinstitut: Bank für Kirche und Diakonie, Duisburg leon.freude@web.de Kto. Nr.: 101 208 1010 www.chilekollektiv.wordpress.com BLZ: 350 601 90 6 Bericht aus Chile: Nachts heiße ich Paloma Und dann geht es in eines der Motels oder... Das ist alles relativ – genau wie die Kunden. Manchmal im Auto, manchmal auf der Straße. Es hängt ganz von den Umständen ab, davon wie viel sie zahlen können. Alles hat seinen Preis, ja. Sexarbeit steht nicht im Ruf, gut bezahlt zu werden. Also, du kannst jetzt nicht erwarten, dass ich Preise nenne, ich kann da nur bestätigen: es ist wenig, sehr wenig. Du nimmst, was du kriegen kannst – die Leute zahlen sonst nicht, sie feilschen... Seis drum, andere zahlen gut, manchmal geben sie dir sogar mehr als du verlangst. Kommt ganz auf den Kunden an. Aber ihr habt euch nicht auf einen milieuspezifischen Mindestpreis verständigt? Nein, leider nicht – soweit man kann, verlangt man immer dasselbe. Aber es gibt immer Leute, vor allem die, die auf Drogen arbeiten – die nehmen jedes Angebot. Zwei, drei Luka – die drücken den Preis, denn danach müssen wir alle runter gehen. Es ist immer dasselbe, die Schuld weniger müssen wir alle abbezahlen. Und wie ist der Umgang mit den Kunden? Auch das ist natürlich ganz verschieden – ja es gibt welche, die sind brutal. In der Regel sind wir es jedoch, die die Situation dominieren. Und: wir Travesties sind bekannt dafür, brutal zu sein. Eben weil unsere Kunden potenziell gewalttätig sind, und – unser gewalttätiger Ruf trägt dazu bei, dass es sehr selten vorkommt, dass die Leute nicht zahlen wollen. Die Mehrheit von uns arbeitet zumindest mit Messer. Es gibt Leute, die uns mitnehmen, um uns woanders zu vergewaltigen oder Leon Freude FiFAr e. V, Carlos Keller 39 Maxstr. 11 San Felipe 47127 Essen Dezember 2010 bis März 2011 . Da man hier viel mit 1000Peso- Scheinen bzw. 100Peso- Münzen rumhantiert haben sich die Bezeichnungen Luka (1000 Pesos) und Gamba (100 Pesos) eingebürgert. Zur Zeit ist ein Luka etwas weniger als 1,50 € wert. Für einen Luka kann man 5 Packungen Taschentücher, 4 Packungen Kekse oder 2 Busfahrten in die Nachbarstadt kaufen 005634 -511 989 Kreditinstitut: Bank für Kirche und Diakonie, Duisburg leon.freude@web.de Kto. Nr.: 101 208 1010 www.chilekollektiv.wordpress.com BLZ: 350 601 90 7 Bericht aus Chile: Nachts heiße ich Paloma Dezember 2010 bis März 2011 uns mit mehr Leuten zu erwarten. So etwas hört man ständig – aber hier, Gott sei Dank, habe ich so etwas noch nicht mitbekommen. Es kommt schon vor, dass die Leute uns Dinge hinterherrufen – aber mehr ist mir noch nicht untergekommen. Ab und zu gibt es untereinander Stress – aber nicht mehr als Fäuste. Das heißt, du fühlst dich mehr oder weniger sicher? In der Straße fühlt man sich nie sicher. Manchmal diese Raufereien unter Kolleginn_en. Aber das ist nicht das Problem, sondern eher: du steigst ins Auto und weißt nie, wohin die Reise geht – ob du zurück kommst. Das ist das Hauptproblem. Immer wenn Kolleginn_en längere Zeit weg sind, macht man sich Sorgen, nach einer Zeit ruft man sie an. Und du bist auch immer mit Messer unterwegs? Natürlich – ich war noch nie ohne Messer arbeiten. Trotzdem gibt es ein paar, die sich so sicher fühlen, dass sie unbewaffnet sind. Sicherheit betrifft ja nicht nur kurzfristige Lebensgefahr – wie schützt du dich vor Geschlechtskrankheiten? Immer mit Kondom – ich zumindest. Das heißt, nicht bei Oralverkehr, aber wenn es zur Penetration kommt auf jeden Fall immer mit Kondom. Manchmal ist es kompliziert, weil die Kunden versuchen, dass Kondom wegzunehmen oder es geht kaputt... Deine Kolleginn_en – wie alt sind die ungefähr? An meiner Ecke ist die Älteste 35 und die Jüngste 21. Leon Freude FiFAr e. V, Carlos Keller 39 Maxstr. 11 San Felipe 47127 Essen 005634 -511 989 Kreditinstitut: Bank für Kirche und Diakonie, Duisburg leon.freude@web.de Kto. Nr.: 101 208 1010 www.chilekollektiv.wordpress.com BLZ: 350 601 90 8 . Travesties sind zunächst einmal nichts ungewöhnliches im Straßenbild. So kann einem ein sechs-jähriges Mädchen erklären was als Frauen verkleidete Männer an der Hauptstraße Chacabuco machen. Die Präsenz geht sogar soweit, dass einer der bekanntesten Zirkusse, der Zirkus Timoteo, ausschließlich aus Travesties besteht Bericht aus Chile: Nachts heiße ich Paloma Dezember 2010 bis März 2011 Mittlerweile bist du auf Distanz zu deinem ehemaligen Job gegangen – war der Ausstieg einfach? Nein, ganz und gar nicht. Die Entscheidung Einzusteigen war schon schwierig – also ich brauchte halt dringend Geld. Nicht morgen, nicht nächste Woche, sondern sofort. Und dieser Job bietet sich ja geradezu an. Der Ausstieg war nicht einfach – die Straße ist wie eine Droge. Ich meine, du verdienst eine Menge Schotter. Du kriegst jeden Tag cash, du gehst einfach so durch die Stadt und leistest dir was – du weißt ja, am Abend kann ich das wieder reinholen. Immer flüssig zu sein, das hat schon was. Ausgestiegen bin ich aus purer Eitelkeit. Eitelkeit? Eitelkeit – so etwas in der Art, ja. Wie sind so die Reaktionen in deinem Umfeld auf deine Arbeit gewesen? Also, meine Familie fand nicht gut, dass ich in der Disko gearbeitet habe. Dass ich schwul bin, akzeptieren sie, aber sich wie eine Frau anzuziehen, das hat sie schon irritiert. Mittlerweile nicht mehr, sie wissen sogar, dass ich im Comercio arbeite, aber sie lieben mich. Mit den Freunden ist das eine andere Sache. Viele sind seitdem auf Distanz zu mir gegangen, aber die, die geblieben sind sind bacán, sie akzeptieren der, der ich bin. Für sie bin ich derjenige, der ich bin, völlig egal, was ich anziehe, wie ich arbeite. Leon Freude FiFAr e. V, Carlos Keller 39 Maxstr. 11 San Felipe 47127 Essen 005634 -511 989 Kreditinstitut: Bank für Kirche und Diakonie, Duisburg leon.freude@web.de Kto. Nr.: 101 208 1010 www.chilekollektiv.wordpress.com BLZ: 350 601 90 9 • Bei Eitelkeit hätte ich gerne noch mehr gefragt, wenn ich gewusst hätte, was Paloma mir hat sagen wollen. Ich habe aber erst nach dem Interview die Bedeutung des Worts gefunden und war geschockt ˜ toll, großartig, cool Bericht aus Chile: Nachts heiße ich Paloma … und die Polizei-Streife? Ah – die Carabineros, das ist eine andere Sache. Ich hatte nie Probleme mit denen. Anfangs haben sie mich häufiger kontrolliert – mittlerweile nicht mehr. Man kennt sich, man grüßt sich. Wenn neue Carabineros kommen geht die Geschichte wieder von vorne los. Stress! Aber mit der Zeit gewöhnen sie sich dran. Heute grüßen mich viele Carabineros sogar tagsüber, erkundigen sich nach meinen Befinden, dem Leben. Wenn man sich jede Nacht sieht, entwickeln sich Beziehungen. Keine Freundschaft – aber man kennt sich. Du hast mir von der Organisation CIProDeS erzählt – kannst du dazu ein bisschen mehr sagen? In der Gruppe arbeiten wir zu allen Themen, die AIDS und Geschlechtskrankheiten betreffen. Wir bilden z.B. Trainer zur Prävention aus, kümmern uns um die Resozialisierung von Sexarbeiter_innen. Wir verteilen Informationshefte und Präservative auf den Großveranstaltungen in San Felipe. Außerdem organisieren wir Gesprächsrunden in Nachbarschaftszentren, für Jugendliche und Erwachsene: immer geht es um die Prävention, und hier im insbesondere um die richtige Benutzung des Kondoms. Auch wenn sie immer sagen, dass es nicht das einzige ist, ist es doch, unserer Meinung nach, das sicherste. Ich meine, die ganze Welt will, in irgendeinem Moment des Lebens, Sex. Und abgesehen, dass ein Kondom dich vor Geschlechtskrankheiten schützt, schützt es heterosexuelle Beziehungen auch vor ungewollter Schwangerschaft. Leon Freude FiFAr e. V, Carlos Keller 39 Maxstr. 11 San Felipe 47127 Essen Dezember 2010 bis März 2011 • Mich überrascht, dass hier nie von dem sonst so leicht über die Lippen gehenden paco, also dem Bullen, gesprochen wird. Dabei hat das Gros der chilenische Polizei wirklich Lob für Korrektheit verdient. Insbesondere im lateinamerikanischen Vergleich . In Chile geht man von 22.000 HIV-Infizierten aus – bei einer Gesamtbevölkerung von knapp 17 Millionen. 85% davon sind Männer. Als Hauptursache wird unge- schützter Geschlechtsverkehr angeführt. . Auf Flyern zur Verhütung, steht Enthaltsamkeit ganz oben. Der letzte Punkt ist dann der Gebrauch eines Kondoms. Dass Kondome im Supermarkt wie Zigaretten hinter Schloss und Riegel verkauft werden, trägt wohl auch nicht zu einem vermehrten Gebrauch bei 005634 -511 989 Kreditinstitut: Bank für Kirche und Diakonie, Duisburg leon.freude@web.de Kto. Nr.: 101 208 1010 www.chilekollektiv.wordpress.com BLZ: 350 601 90 10 Bericht aus Chile: Nachts heiße ich Paloma Ein großes Problem, was wir hier in San Felipe haben, ist das folgende: wir haben eine hohe Rate an HIV infizierten Frauen, las dueñas de casa. Das liegt daran, dass ihre Männer fremdgehen. Se meten con Pedro, Juan y Diego, wie man hier sagt oder sie machen mit anderen Frauen rum und schützen sich nicht. Du sagtest, ihr arbeitet mit dem Rathaus zusammen – war die Zusammenarbeit immer schon gut? Chile ist sehr keusch. Alle sehen uns zunächst sehr kritisch. Aber wir haben uns unseren Platz erkämpft. Die Gesellschaft schätzt unsere Arbeit, weil wir dort sind, wo die papas queman. Fühlst du dich in den großen LGBTQ-Organisationen Chiles, dem Movilh oder MUMs repräsentiert? Es gäbe eine Menge zu tun. Um Transgender und Travestie steht es nicht zum Besten. Ein Travestie kann nicht als Frau verkleidet arbeiten, weil sein Carnet sagt, er sei ein Mann. Bedauerlicherweise lassen die chilenischen Gesetze nicht zu, dass ein Mensch sich so verhält, wie er sich fühlt. Aber das interessiert MUMS nicht. Die repräsentieren die schwule Welt. Dass es auch Lesben, Travesties, Transgéneras gibt, sehen die nicht. Und ich finde, wenn man schon für die sexuelle Vielfalt kämpft, dann auch für alle und nicht für die Mächtigen, in diesem Falle schwule Männer, unter der Minderheit. Die anderen sollen keine eigene Organisation gründen – damit zersplittert man sich. Man sollte, wie unsere Gruppe in San Felipe an einem Strang ziehen: wir arbeiten mit ganz verschiedenen Leuten: Ehepaaren, Hausbesitzerinnen, Travesties, Schwulen, Lesben – wir sind in Vielfalt geeint. Leon Freude FiFAr e. V, Carlos Keller 39 Maxstr. 11 San Felipe 47127 Essen Dezember 2010 bis März 2011 ˜ Hauseigentümerin, Haushaltsvorstand ˜ fremdgehen/promiskuitiv leben ˜ da wo die Post abgeht . LGBTQ: Lesbian, Gay, Bisexual, Trans*, Queer ˜ Personalausweis . Das Interview ist stark gekürzt und aus dem spanischen übersetzt. Obwohl ich mir größte Mühe gegeben habe und den Rat vieler Muttersprachler_innen hinzugezogen habe, kann es zu Fehlern gekommen sein. Wie oben bereits erwähnt freue ich mich über Verbesserungen eurerseits 005634 -511 989 Kreditinstitut: Bank für Kirche und Diakonie, Duisburg leon.freude@web.de Kto. Nr.: 101 208 1010 www.chilekollektiv.wordpress.com BLZ: 350 601 90 11 Bericht aus Chile: Nachts heiße ich Paloma Dezember 2010 bis März 2011 Damit sind wir auch schon fast am Ende – eine Frage habe ich noch und zwar zu Prostitution in San Felipe im Vergleich mit Los Andes. Man hört viel über die Prostitutionsstadt L.A. - alles übertrieben oder was Wahres dran? Also man sagt, Los Andes sei sehr groß im Geschäft, dadurch dass der Verkehr nach Argentinien durch die Stadt geht – viele LKW-Fahrer. Aber so wild geht es da auch nicht zu. Ich glaube sogar, dass es in San Felipe mehr Prostitution gibt – aber ich weiß es nicht. Vielen Dank für das Interview – es war sehr lehrreich und ich hoffe, dass es auch den Leser_innen einen vielleicht bisher vernachlässigten Teil der Alltagskultur in San Felipe näher gebracht hat. Vielen Dank für deine Einladung und viel Spaß beim Lesen. Leon Freude FiFAr e. V, Carlos Keller 39 Maxstr. 11 San Felipe 47127 Essen 005634 -511 989 Kreditinstitut: Bank für Kirche und Diakonie, Duisburg leon.freude@web.de Kto. Nr.: 101 208 1010 www.chilekollektiv.wordpress.com BLZ: 350 601 90 12 • Beim Abtippen des Berichts habe ich mich sehr über meine vemeintlich unkritische Art gewundert. Ich kann mir das nur so erklären, dass ich versucht habe, nicht zu werten, sondern Raum für Paloma zu geben von selbst aus zu erzählen – ohne von mir als Ausgebeutete dargestellt zu werden . In meinem GMX MediaCenter könnt ihr euch außerdem noch detaillierte Berichte zu konkreteren vom Eine Welt Laden Duisburg Neudorf finanzierten Projekten herunterladen. Vielen Dank nochmals vielen Dank an den Weltladen.